Der reale Kampf bzw. die körperliche Auseinandersetzung kommt meist vollkommen unvorbereitet. Dies bedeutet: keine Zeit für Erwärmung, Dehnung oder Einnehmen einer Vorkampfstellung. Zudem ist die Auseinandersetzung unfair und kommt zum unpassendsten Zeitpunkt. Der Angegriffene ist normalerweise stets in dreifacher Hinsicht systematisch im Nachteil:
- Zumeist ist er physisch schwächer (kleiner, leichter, gebrechlicher, zahlenmäßig unterlegen etc.) als der Angreifer.
- Der Angegriffene wird meist überrascht. Dies ist zwangsläufig so und gehört zur „Taktik“ des Angreifers.
- Durch die Überraschung und offensichtliche Unterlegenheit ist der Angegriffene üblicherweise verunsichert oder gar gelähmt. In jedem Falle aber psychologisch deutlich instabiler als der Angreifer.
Somit ist in über 90 Prozent aller Fälle der Ausgang einer körperlichen Auseinandersetzung bereits vorprogrammiert. (Heidner 2011, Seite 8)
Herkömmliche Kampfsportarten oder Selbstverteidigungsmethoden können in speziellen Situationen nicht optimal eingesetzt werden, um sich effektiv zu verteidigen. Sie bereiten auf den sportlich-fairen Kampf vor, in denen beide Parteien von Beginn an die gleichen Chancen haben. Ein Kampfrichter sorgt dafür, dass bestimmte Regeln eingehalten werden und einrelativ verletzungsfreier Kampf gewährleistet wird. Selbst Vollkontakt Kämpfe können es sich nicht leisten, wirklich ohne Regeln abzulaufen. Der wirkliche Unterschied von einem „sportlichen Wettkampf“ zu einem Realitätskampf ist, dass er ohne Warnung beginnt und der Angreifer von sich aus den Beginn bestimmt.
Es gibt keinen Ringrichter, der zwischen den Gegnern steht und den Kampf beginnen lässt. Keine Distanz zwischen den Kontrahenten, die erst noch zeitkostend überbrückt werden muss. Beim Ritualkampf hat sich der Gegner schon durch Verstellen oder Reden in die nötige Distanz gebracht und schlägt effektiv und meistansatzlos zu. Das Opfer wird besinnungslos geschlagen, bevor dieses auch nur bemerkt, dass ein Kampf begonnen hat. (Kernspecht Blitzdefence 2000, Seite 45 ff)
Folgende Erwartungen werden daher an eine Selbstverteidigung gestellt:
- optimaler Schutz gegen herkömmliche Angriffe
- in kurzer Zeit für jedermann erlernbar.
Bei diesen Anforderungen hapert es bei vielen Selbstverteidigungen, denn die meisten Techniken erweisen sich in der Praxis als untaugliches Mittel. Es ist mit den in Budo -Stilenüblichen Blocktechniken zum Beispiel nicht möglich, einen ansatzlosen (ohne Ausholen und Ganzkörperbewegungen) gestoßenen Faustangriff optimal abzuwehren. Dies ist keinesfalls auf das mangelnde persönliche Können sondern die benutzten Techniken waren ungeeignet. Der Verteidiger muss zuerst Art und Ziel des Angriffes erkennen, damit die Abwehr kein Zufall bleibt und sinnvoll reagiert werden kann.
Die Zeit, die das Gehirn braucht, um die Steuervorgänge zur Reaktion zu schalten, nennt man „Hirnschaltzeit“. Die Schaltzeit ist umso länger, je mehr Informationen das Gehirn zur Identifikation (Erkennen des Angriffes) benötigt.
Dies bedeutet, je mehr Denkschritte das Gehirn eines Verteidigers benötigt, um einen Angriff zu identifizieren und damit einer passenden Abwehr zuzuordnen, desto länger und ungünstiger wird seine minimale Reaktionszeit.
Daraus lässt sich folgendes Schlussfolgern:
- Je weniger Entscheidungsschritte, desto intelligenter die Methode!
- Je mehr Entscheidungsschritte, desto umständlicher die Methode!
Eine gute Selbstverteidigungsmethode muss mit möglichst wenig Zwischenschritten jeden Angriff eindeutig identifizieren können. Die Mehrzahl der traditionellen Methoden zwingt den Anwender dieser Stile aus einer Menge von 12 bis 24 Elementen zu lokalisieren.
Weiterhin muss mit den herkömmlichen Methoden zunächst erkannt werden, in welcher Höhe der Angriff erfolgt. Man differenziert meist nach dem Merkmal „Höhe“ die drei Stufen: oben (japanisch jodan), Mitte (japanisch chudan) und unten (japanisch gedan). Viele Stile müssen auch berücksichtigen, ob es sich um einen Angriff mit dem rechten oder linken Arm, bzw. rechten oder linken Bein handelt, sodass das Merkmal „Seite“ zwischen links und rechts zu unterscheiden zwingt.
Ein weiteres unerlässliches Merkmal besteht in der „Schlagform“, wobei nicht nur zwischen geraden und kurvig, sondern eigentlich auch zwischen den verschiedenen Winkeln der Kurve differenziert werden müsste. Gerade darin besteht z. B. oft die Unmöglichkeit für einen Budoka, den Schwinger eines Schlägers oder den Haken eines Boxers sicher abzuwehren.
Die minimale Anzahl von 12 Elementen ergibt sich aus der Angriffshöhe (oben, Mitte, unten), der Schlagform (gerade. kurvig) sowie der Angriffsseiten (rechts, links). Ein weitaus wichtiger Punkt ist die Frage, ob der Angriff auf die zentrale Drehachse des Körpers abzielt, oder mehr auf eine der beiden Seiten. Ansonsten müsste der Angriff oft über die ganze Körperbreite zur Seite geblockt werden, was mehr Kraft und Zeit erfordert und ein großes Risiko darstellt.
Die etablierten asiatischen Selbstverteidigungskünste müssten demnach aus mindestens 12 bis 50 Elementen bestehen. Sie sind somit in vielen Fällen umständlich strukturiert. Es kann somit geschlussfolgert werden, dass eine effektive Selbstverteidigung diejenige ist, die dem Anwender aufgrund ihrer „intelligenten“ Struktur erlaubt, möglichst wenig oder gar keine Entscheidungen zu treffen. (Kernspecht 2009, Seite l4ff)